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Rita Maria Schiestl

Nachname:
Schiestl
Vorname:
Rita Maria
geboren:
1923-08-23
Zugehörigkeit:
NordtirolerIn
letze Änderung:
Wed Nov 04 13:58:24 UTC 2020
Biographie
Rita Maria Schiestl, geboren am 23. August 1923, lebt nicht in der Vergangenheit. Doch vor allem ihre Erinnerungen an die Kindheit sind gut und von Dankbarkeit erfüllt. Noch heute ist sie stolz, wenn sie sagen kann: "Ich bin in einem Forsthaus geboren." Der Vater ist Förster, der Großvater väterlicherseits ebenfalls - er stammt aus Salzburg. Daher ist auch Ritas Mädchenname rein salzburgerisch. Plainer, dabei denkt man sofort an den Wallfahrtsort Maria Plain. Der Vater sagt immer, er habe nicht weiß Gott was für Vermögen, aber eine gute Schulbildung ließe er die Kinder machen. Seinerzeit baute er einen Steg über die Ache, dienstlich. Dann wurde eine Tafel aufgestellt: Plainersteg. Und eine Bank stand dort, Plainerruhe genannt. "Das war alles so irgendwie - man war schon integriert dann drinnen." Ritas Geburtsort Achenwald, damals ein kleiner Weiler und sehr entlegen, gehört zur Gemeinde Achenkirch, die wiederum im Achental liegt, das bis zum Achenpass an der bayrischen Grenze verläuft. Gleich dahinter das Zollamt, ringsherum Wiesen und Wald. Erst nach rund vier Jahren kommt ein kleiner Bruder, und es scheint Rita, als wäre ein Sohn viel wichtiger als eine Tochter. "Das hab’ ich ihm bei seinem 70. Geburtstag auch gesagt." Rita geht gern zur Schule. Im Winter beneidet sie die Bauernkinder um die "Toggeln", die warmen Patschen. "Da ist nichts nass gewesen. Und da ist man nicht eingebrochen im gefrorenen Schnee." Rita muss Lederschuhe tragen - und wollene, selbstgestrickte Strümpfe. "Die haben so gejuckt in der Kniekehle." Im Winter marschieren die Achenwalder Schulkinder nach Achenkirch, dem nächsten größeren Dorf, um ein Weihnachtsspiel aufzuführen. Und im Sommer staut der Vater an einer Stelle den kalten Gebirgsbach, baut den Kindern ein Schwimmbad. Mit einem alten Motorradschlauch lernen sie schwimmen. 1934 ist Rita elf Jahre alt, als der österreichische Bundeskanzler Dollfuß ermordet wird. Zusätzlich ändert sich ihr Leben. Nach fünf Jahren Volksschule kommt sie nach Pfaffenhofen im Oberinntal ins Internat, das "natürlich von Schwestern geleitet" wird. Nur zu Weihnachten, zu Ostern und während der großen Ferien dürfen die Kinder heimfahren. Besuche der Eltern sind erlaubt. "Doch von dem Loch in Achenwald drinnen, bis wir da einmal in Jenbach waren." Erst fast eine Stunde nach Achenkirch zu Fuß, mit dem Postauto weiter zur Bahnstation in Jenbach, mit dem Zug nach Innsbruck, dann umsteigen nach Telfs hinauf. Eine Fahrkarte zu lösen ist anfangs für die Försterstochter aus dem Weiler Achenwald ein Problem. Heute sei es eher ein Problem gewesen, die Fahrkarten einzutippen. "Aber ich kann's jetzt schon." 1937 beendet Rita die Hauptschule, und der Vater wird endlich nach Kufstein versetzt. Zu spät, jetzt nützt dort die größere Schule nichts mehr. Rita besucht die Handelsakademie in Innsbruck, wohnt bei einer Bauernfamilie im Innsbrucker Stadtteil Mühlau. Zuerst getraut sie sich kaum zu essen, "so mit meinem Löffel da hinein". Denn alles kommt in einer Schüssel in die Mitte des Tisches, "und die haben da alle das herausgegessen." Nach der Matura erhält sie von den lieben Hausleute ein Kochbuch. "Praktisch, gell, ja." Nach acht Jahren will Rita Geld verdienen. "Und was die Eltern mir Gutes getan haben, ihnen auch etwas vergüten." Vier oder fünf Monate arbeitet sie in einem Steuerberatungsbüro. Dann kommt die Einberufung zum RAD, dem Reichsarbeitsdienst, nach Oberndorf bei Lüneburg. In der Lüneburger Heide fühlt sie sich wohl - und sicher. Einmal im Monat schicken sie die Führerinnen in das zauberhafte Städtchen Lüneburg, um Blumen einzukaufen. Für Rita ein interessanter, freier Tag. Zuerst weiß sie nicht, wo sie ein Blumengeschäft findet. Dort ist man dann hellauf begeistert. "Was? Aus Tirol ein Mädchen." Im Arbeitsdienst erhalten die Mädchen 20 Pfennige Taschengeld pro Tag. Viel Geld haben sie nicht, aber es reicht, um am Sonntag in ein Kaffeehaus zu gehen, Kuchen essen. Einmal muss sie bei einem Bauer arbeiten, weit und ganz allein durch einen Wald gehen, auch im Winter. Schwerarbeit, in der Scheune Strohballen mit der Gabel aufzufassen und hoch hinauf zum Heuboden zu heben. Polnische Kriegsgefangene sind auch dabei. Einer schubst sie freundlich weg: "Keine Arbeit für dich." An ihn denkt sie so manches Mal. "Und hab' ihm immer gewünscht, dass er viel Glück hat." Niemand darf mit den Kriegsgefangenen sprechen, strenges Verbot. Rita vermag nur "Danke" zu sagen. Nach etwa einem Jahr, es dürfte knapp nach dem schrecklichen 28. März 1942 gewesen sein, werden die Mädchen vom Reichsarbeitsdienst nach Lübeck gebracht zum KHD, Kriegshilfsdienst. Als sie ankommen, brennt Lübeck. Die Türme sind eingestürzt, die Getreidespeicher an der Trave brennen. Die Mädchen wissen nicht, wohin. Sie hausen dann in einer Baracke, leben aus dem Koffer und arbeiten in einer offenbar kriegswichtigen Fabrik. Nachts sitzen sie oft im Luftschutzkeller. Der Kriegshilfsdienst verläuft weiter turbulent in einem kleineren Ort nahe der Ostsee. Rita wird in der großen Werkshalle an einer Schleifmaschine eingelernt. "Hab' ich so ganz kleine Ringelen schleifen müssen, das war kriegswichtig scheinbar." Teile einer Waffe, hieß es. Später arbeitet sie in einer Werkstatt-Schreibstube. Die Tirolerinnen sind "eigentlich Liebkind gewesen" bei den Arbeitern und den "Chefitäten." Rita gewinnt auch neue Kameradinnen aus allen Gebieten Deutschlands. Im Sommer spazieren sie an die Ostsee, nehmen das Badezeug mit. In die Wolken am Horizont erträumt sich Rita ihre Berge. Dieser Gedanke hilft ihr sehr. An sich ist es auch eine recht schöne Zeit. Vor allem die Tirolerinnen helfen einander, sie halten zusammen. Zweimal dürfen sie heimfahren. Nach 13 Monaten RAD und KHD geht es endgültig nach Hause. Der Vater wird gleich zu Kriegsbeginn zum Polen-Feldzug einberufen, dann aber aus beruflichen Gründen zurückgestellt. 1944 jedoch erhält er den Einberufungsbefehl zu den Standschützen. Und nach Weihnachten 1944 muss der Bruder zum aktiven Wehrdienst, er ist sechzehneinhalb Jahre alt! Weil er sich immer von den Appellen der HJ drückte und lieber mit Freunden im Gelände der Festung Kufstein herumkletterte, glaubt die Mutter. Noch zwei, drei gleichaltrige Freunde rücken mit ihm ein. Der Bruder kommt zur Flak nach Merseburg an der Saale in Sachsen-Anhalt. Bei der Flak werden unzählige junge Burschen verheizt. Beim Angriff auf Dresden sind sie auch im Einsatz mit der Fliegerabwehr. Der Bruder hat Glück, er kommt in amerikanische Gefangenschaft und im Juli oder August 1945 einigermaßen gesund heim. Nach dem Kriegsende überlegt die Familie, ob sie auf eine Diensthütte des Vaters im Wald gehen sollen. Dann entschließen sie sich doch, in Kufstein zu bleiben. Als die ersten amerikanischen Panzer durch die Straßen rattern, schaut Ritas Familie vorsichtig durch einen Spalt der Jalousien. "Und dann sind Schwarze herausgehüpft. Da waren wir schon - mah, da sind wir dann erschrocken!" Nachdem sich alles halbwegs beruhigt hat, will die Familie in die Stadt, "ein bisschen schauen gehen." Sofort werden sie "beschlagnahmt", Strassen zu kehren und die Scherben wegzuräumen. "Das haben wir von unserer Neugierde gehabt!" In Kufstein herrscht Ausgangssperre. Ab 19 Uhr darf kein Einheimischer ohne Passierschein mehr auf der Straße sein. Einmal geht Rita mit dem Vater auf dem Winterkopf, einem Berg in seinem Bezirk. Er will nachsehen, wie es auf seiner Hütte dort ausschaut, denn alles befindet sich schon in Auflösung. Es begegnen ihnen viele Soldaten auf der Flucht. Zum Großteil Deutsche, die schnell heim wollen. Wie sie da am Besten durchkämen, fragen sie. Der Weg über den Achenpass nach Bayern dürfte ein offener "Geheimtipp" gewesen sein. In die Hütte wurde natürlich eingebrochen, nichts mehr vorhanden. "Das, haben wir uns gesagt, haben die sich geholt, die haben es gebraucht, die Soldaten." Rita und ihr Vater erreichen Kufstein erst nach 19 Uhr, beinahe wären sie verhaftet worden. Ritas Englischkenntnisse machen sich nun bezahlt. Im Jahr 1945, Rita ist 22 Jahre alt, endet das schöne Familienleben. Der Vater kommt vom Außendienst nicht mehr heim. "Und als wir ihn gesucht haben, haben wir ihn gefunden im Wald - erschossen." Der Bruder hat ihn gefunden. Von Tannenzweigen zugedeckt, von einem Wilderer erschossen. Das bedeutet auch, das Försterhaus verlassen zu müssen. Die kleine Pension, die Rente für die Familie reicht kaum für das Nötigste. Der Bruder geht noch in Innsbruck in die Höhere Technische Lehranstalt, weil er ja durch den Krieg ein Jahr versäumt hat. Da ist die Mutter froh, dass Rita mitverdienen kann. Anfang der 1950er Jahre beginnt wieder eine schöne Zeit. Rita lernt ihren Mann kennen. Bis zur Hochzeit und der Übersiedlung nach Innsbruck in die Neuhauserstraße 10 dauert es zweieinhalb lange Jahre. Rita heiratet im Jahr 1953, will viele Kinder haben. Doch nach drei Kindern findet sie, jetzt ist’s genug. Aber dann haben sie noch eine "Draufgabe" bekommen. Die Pille ist gewissermaßen noch nicht in aller Munde. Das kleine Mädchen ist für Rita Schiestl bald ein wichtiges, letztes Geschenk ihres Mannes. 1965 stirbt er. Walter Schiestl, ein Ingenieur, hat beim landwirtschaftlichen Wiederaufbau mitgearbeitet. Während der Heimfahrt vom Außendienst verunglückt er mit dem Auto. Den Kindern sagt Rita Schiestl: "Ja, der Papa hat's jetzt schön, der ist jetzt im Himmel. Und wir werden halt zusammenhelfen müssen." Den jüngeren Sohn tröstet sie, als er im selben Jahr in die Schule kommt: "Weißt, wenn's uns einmal recht lausig geht, nachher rufen wir einfach den Papa an, dass er uns hilft." Der Bub fragt, ob die Mama die Telefonnummer wüsste. Rita Schiestl denkt oft, mein Gott, wenn sie bloß eine Telefonnummer hätte. Die Mutter hilft ihr, auch der Bruder und seine Frau. Früher trug man meist schwarz im Trauerjahr. Den zehnjährigen Ältesten bedrücken die schwarzen Kleider der Mama. Da hat sie die Mutter weggelegt, obwohl sie die unkomplizierte Kleiderwahl ganz praktisch fand. "Ich war nie verlassen. Ich kann auf ein sehr schönes, reiches Leben zurückblicken, für das ich sehr, sehr dankbar bin." Anju